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Der Blindgänger. Steven Mack über sein altes und sein neues Leben.

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«Mein Leben hat mich gern»: Steven Mack am 8. Februar 2012 in Langnau.

Steven Mack hat den sicheren Tod überlebt. Jetzt ist er auf Vortragsreise: Was ihm passierte, wie es ihm heute geht und wie er über das Leben denkt, erzählt er im Rahmen einer Multivisionsshow – inspirierend, humorvoll und eindrücklich.

«Ich gestalte mir jetzt mein Leben so, wie ich es jederzeit gern betrachte»: Dass ausgerechnet Steven Mack dies sagt, ist bemerkenswert – denn Steven Mack ist blind. Am 28. Mai 2006 verunfallte der damals 20-jährige Zürcher bei einem Pendelsprung von der Walliser Ganterbrücke. Damals geschah, was nach menschlichem Ermessen nicht hätte geschehen dürfen: Beide Seile rissen, das Hauptseil und das Sicherheitsseil – und Steven Mack stürzte 150 Meter in die Tiefe. Dass er überlebte, verdankt er einer Lärche: Sie bremste seinen Fall, als er in sie krachte und sich dabei rund 40 Knochenbrüche zuzog, die meisten davon im Gesicht. Untersuchungen des Unfallhergangs ergaben später, dass Steven Mack nichts falsch gemacht hatte – keine Nachlässigkeit, keine Fahrlässigkeit, keine Unvernunft. Und doch rissen beide Seile.

Drei Tage in Lebensgefahr, zehn Tage im Koma, zwei Monate im Rollstuhl, sechzehn Wochen in der Reha-Klinik – und seit fünf Jahren blind. Denn obwohl seine Augen aus medizinischer Sicht in Ordnung sind, lebt Steven Mack seit dem Unfall in völliger Dunkelheit. Kein Licht, kein Schatten, nada. Psychogene Lähmung nennt sich das, möglicherweise eine Reaktion des Körpers oder der Seele auf die wahnsinnige Angst, die Steven Mack empfunden haben muss, als er ungebremst der Erde entgegen raste. Er selber kann sich weder an den Unfall noch an die Zeit kurz davor erinnern.

Woran er sich aber sehr wohl erinnert, ist sein früheres Leben. Er, der Naturbursche, verbrachte jede freie Minute draussen, vorzugsweise in den Bergen, an Seilen, Felsen oder in Eisfällen hängend. Er übernachtete mit dem Schlafsack im Schnee, tauchte in vereisten Seen, sprang von Brücken, hohen Bäumen und Kränen und genoss seine Freiheit mit jedem Atemzug.

Ist einer, der das Schicksal so heraus fordert, des Lebens müde? Von der Sehnsucht nach dem Tod getrieben?

Aus der Rekrutenschule schickte man ihn heim, weil man ihn aufgrund der Wagnisse, die er einging, für suizidal befand. Steven Mack hält es mehr mit dem peruanischen Schriftsteller Sergio Bambaren, der sagte: «Wenn wir etwas riskieren, wollen wir uns dem Leben nicht entziehen, sondern wir wollen verhindern, dass das Leben sich uns entzieht.»

Autogrammviertelstunde im Kirchgemeindehaus Langnau.

Dieses Leben, das Steven Mack bis zum letzten Tropfen auskosten wollte, hat sich seit dem Unfall komplett verändert. Seinen Beruf als Hochbauzeichner kann er nicht mehr ausüben. Dafür ist er aber jetzt viel unterwegs: Seit Oktober 2011 ist Steven Mack auf Vortragstournee mit einer Multivisionsshow und mit dem Buch, das der Journalist Niels Walter mit ihm und über ihn geschrieben hat.

Der Blindgänger. Das gewagte Leben des Steven Mack ist das Porträt eines jungen, abenteuerlustigen Menschen, der auszog, die Freiheit zu finden, und sie in sich selbst fand; das Porträt eines Lebenshungrigen, der in jungen Jahren erfahren hat, dass vieles letztlich eine Frage der Perspektive ist, der Einstellung und der Bewertung.

Wir bewerten pausenlos – uns selbst, andere, die Umwelt. Unser Ego lebt von Bewertungen; sie sind seine Nahrung. Steven Mack wurde das Privileg zuteil, eine kurze Zeit seines Erwachsenenlebens weitgehend wertfrei zu verbringen: «Die erste Zeit nach dem Unfall war alles neu für mich, denn ich konnte mich an das Alte nicht erinnern. Subjektiv betrachtet ging es mir gut: Ich bekam angenehme Massagen von netten Therapeutinnen, viel Besuch von Familie und Freunden und fand das Essen super, immer nur Kartoffelbrei und Polenta – aber hey, ich kannte ja nichts anderes. Ich hatte keine Vergleichsbasis und konnte somit auch nicht bewerten, ob dieses oder jenes jetzt besser oder schlechter, gut oder nicht gut war.» Für Steven Mack gab es nur das Hier und Jetzt, es gab kein Früher und kein Morgen, keine Erinnerung an das Leben, wie es einmal war.

Das änderte sich natürlich mit der Zeit: Erinnerungen kehrten zurück; nach und nach wurde ihm bewusst, dass er blind war – und dass sein Leben von nun an ein anderes sein würde. Trotz aller Zuversicht und allem Optimismus erlebt Steven Mack auch Momente, in denen er traurig, wütend und unglücklich ist: «Früher gaben mir die Berge Kraft», sagt er, «doch wenn ich heute an sie denke, tut es mir oft weh.» Und das, so sagt er, sei eigentlich ein Widerspruch, denn: «Die Berge sind immer nur die Berge. Sie sind immer gleich. Ich bin es, der sich verändert hat. Meine Wahrnehmung von den Bergen ist heute anders, und somit liegt es an mir, wie ich die Dinge erlebe.»

Ein wahres Wort: Die Ursache für alles Leid in der Welt ist die Diskrepanz zwischen Wunsch und Wirklichkeit. Wir erleben etwas und wünschen uns, dass es anders sein möge, als es ist. So entsteht Leid: Weil die Dinge nicht so sind, wie wir sie gerne hätten.

Steven Mack ist «Der Blindgänger».

Steven Mack hat nichts unversucht gelassen, um sein Augenlicht zurückzugewinnen. Von A wie Akupressur bis W wie Wassertherapie hat er Dutzende von schul- und komplementärmedizinischen Methoden ausprobiert. Nach fünfjähriger Ausbildung zum Patienten befand er, dass es nun genug sei, und dass er anfangen wolle, auf sich selbst zu hören. «Man kann sein Leben lang Patient sein», und so einer ist Steven Mack nicht.

Ratschläge und Inspiration sind ihm nach wie vor willkommen, doch er hat gelernt, auf sich selbst zu hören, auf seinen Körper und auf seine Gefühle, auch auf die unangenehmen, diejenigen, die man lieber gar nicht hätte. Er will den Dingen auf den Grund gehen und ist überzeugt, dass seine Blindheit einen Zweck erfüllt. Er ist zuversichtlich, dass er irgendwann wieder mit den Augen sehen wird – und bis es so weit ist, sieht er eben anders, nämlich mit all seinen anderen Sinnen und mit seinem Herzen.

Auf die Frage, was er am meisten vermisst, seit er blind ist, antwortet Steven Mack: «Mich unbeschwert bewegen können, das fehlt mir am meisten. Wenn man blind ist, erfordert jede Bewegung im Raum grosse Konzentration, weil man ja seine Umgebung und allfällige Hindernisse nicht sieht.» Hand aufs Herz: Wer von uns Sehenden hat je darüber nachgedacht, wie glücklich wir uns schätzen können, dass wir unbeschwert rennen, hüpfen, laufen, tanzen, radfahren können?

Mich hat Steven Mack sehr beeindruckt – nicht nur mit seiner erstaunlichen Lebensgeschichte, sondern ebenso mit seiner Präsenz, seiner Offenheit und seiner Entschlossenheit, die Dinge anzunehmen, wie sie sind. Und wenn ich jetzt so über seinen Vortrag nachdenke, fällt mir noch etwas auf: Integriert in die Multivisionsshow waren Filmaufnahmen von Steven Mack, wie er nach seinem Unfall an Fassaden, im Treppenhaus oder an anderen Objekten seiner Wahl klettert. Wie er sich dabei bewegt, scheinbar mühelos, kraftvoll, souverän und anmutig, gleich einem Tanz, wunderschön anzusehen. Eine Augenweide, Balsam fürs Auge sozusagen – geschaffen von einem, der zur Zeit nicht sehen kann.

Mehr über Steven Mack:
– Kein Berg zu hoch – der tiefe Fall von Steven Mack und sein Weg zurück, aus der Reihe «Reporter» des Schweizer Fernsehens DRS
– Steven Mack zu Gast bei Aeschbacher (Video)
– Website von Steven Mack
– Buchtipp: Der Blindgänger, von Niels Walter


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